Frauen in den Evangelien
Die Evangelien sind keine reinen Männergeschichten; vielmehr kommen Frauen als Erzählfiguren nahezu durchweg wegweisende Funktionen zu.
Darüber hinaus beinhalten die Fraueportraits der Evangelien in den meisten Fällen ein enormes Identifikationspotenzial - auch (oder gerade) dann, wenn einige von ihnen namenlos bleiben.
In dieser Reihe kommen einige der Frauen aus den Evangelien selbst zu Wort. Sie thematisieren die Texte des Neuen Testaments, in denen sie begegnen und sprechen über die Rezeption, die sie erfahren (haben).
Sämtliche Bilder von pexels.com; Bearbeitung Volker Niggemeier
Hierfür werden in jeder Folge Texte sowohl aus biblischen und außerbiblischen Referenzen als auch aus der Sekundärliteratur Texte zu einer jeweilige Frauenfigur verfasst, die darin als Ich-Erzählerin auftritt.
Ich schließe meine Augen. Innerlich bin ich aufgewühlt von all den Gedanken, die mich bewegen. Sehe auf die Geschichte, in der ich begegne. Diese eine Geschichte, die so vielfach und vielfältig erzählt wird. So vielfältig wie ich bin. Wie wir sind.
Ihr fragt euch, wer ich bin? Wer wir sind? Ihr kennt uns. Ihr kennt uns und habt ein Bild vor Augen. Ein Bild? Oder vielmehr ein gebrochenes Mosaik an Einzelbildern? Überlieferte Bilder, bruchstückhafte, verzerrte, verfälschte oder auch verklärte Bilder? Vielleicht glaubt ihr auch nur, uns zu kennen. So, wie ihr seine Geschichte kennt. Die Geschichte kennt uns … aber kennt sie uns wirklich? Wir sind mehr als Schatten der Überlieferung oder Bestandteile der Tradition. Wir sind mehr als nur hübsches Beiwerk einer Geschichte von Männern um ihn.
Manchmal nennt ihr uns „Gottes starke Töchter“, manchmal überseht ihr uns schlicht. Einige von uns begegnen unvermittelt, ganz plötzlich, nur in einer kurzen Szene. Über andere wiederum drehen sich ganze Episoden. Manche von uns werden nur über ihren Status vorgestellt – oder ihr Schicksal. Sie werden nicht einmal bei ihrem Namen genannt. Nicht von ihm, nicht von ihnen. Dabei ist es so wichtig, einen Namen zu haben. Die Vier, deren Namen ihr kennt, haben sich Mühe gegeben, aber sie schrieben im Kontext ihrer patriarchalen Welt. Manchmal kennen sie unsere Namen, oft dagegen begegnen wir nur im Pronomen. Oder im Wort „Frau“. Oder werden über diejenigen definiert, die meinen, über uns zu stehen. Uns kleinhalten. Das kleine „sie“ im großen Text. Das kleine „sie“ im großen Ganzen. Die unbedeutende „Frau“ der damaligen Zeit? Ja, wir werden schnell übersehen. Dabei haben wir so viel gesehen.
Wir sind Protagonistinnen der Erzählungen um ihn. Schillernd, facettenreich – wichtig! Jede einzelne von uns hat ihren Platz in der Geschichte um den, der sie verändert. Er, der seine Spuren in unserem Leben hinterlässt. Der so viel in uns auslöst, uns Hoffnung schenkt. Unser Leben verändert, es durchkreuzt. Manche von uns sind nur von der Sehnsucht getrieben, in seiner Nähe zu sein. Die Worte zu hören. Das Geheimnis zu sehen. Einige belächeln uns dafür – wollen nicht, dass wir in seiner Nähe sind. Dabei haben wir einen klaren Blick auf die Ereignisse, die sich unter uns erfüllen – manchmal sogar klarer als die, von denen die Schriften erzählen, dass sie ständig in seiner Nähe waren.
Wir sind Begleiterinnen. Manche von uns mit ihren Dämonen. Wir überschreiten Grenzen. Auch jenseits der Konvention. Sichtbare und unsichtbare Grenzen. Grenzen, die uns krümmen und die uns prägen. Wir suchen das Verlorene. Wir hören zu, bleiben hartnäckig, erkennen den richtigen Augenblick, sind bekennende Zeuginnen!
Salbend, weinend, glaubend.
Gekrümmt vom Leben – gebeugt vor dem Dunkel des Grabes.
Verängstigt, besorgt, fürsorglich.
Nachdenklich und aufbegehrend.
Verzweifelt und verständig.
Heilsam, aufrichtend, wegweisend.
Beauftragt, gesendet, gesegnet.
Wir sind mehr als nur Nebenfiguren in einer Männergeschichte. Mehr als nur Übeltäterinnen und Randbemerkungen. Wir haben unsere Geschichten. Unsere Stimme. Unser Handeln. Unser Zeugnis! Entschieden und mit allen Konsequenzen
Wir sind Frauen in den Evangelien.
Ich bin eine von ihnen.
Ich bin eine Griechin syrophönizischer Abstammung und stamme aus der Gegend von Tyros.
Von dem Mann, den ihr als ältesten Evangelisten kennt, werde ich auf mehreren Ebenen als Nichtjüdin charakterisiert. Dadurch, dass ich so deutlich als Fremde gekennzeichnet bin, ergibt sich ein Nachteil für mich. Und genau dieser Nachteil ist es, der in der Erzählung um mich eine wesentliche Rolle spielt.
Als ich davon erfahre, dass er sich in unserem Gebiet aufhält, muss ich ihn aufsuchen. Dafür überwinde ich gezogene Grenzen, verlasse mein Haus und den mir zugewiesenen Handlungsraum, trete in die Öffentlichkeit, gehe in das Haus, in dem er sich aufhält, und nähere mich ihm mit meinem Anliegen. Zu seinen Füßen bitte ich ihn, dass er meine kranke Tochter heilen möge, von der ein Dämon Besitz ergriffen hat. Ich glaube fest daran, dass er ihr helfen kann. So vielen anderen hat er schon geholfen … Ich setze all meine Erwartungen in ihn. Was ich jedoch nicht erwartet habe, ist, dass ich mich, um mein Ziel zu erreichen, selbst so erniedrigen lassen muss.
Warum weist er meine Bitte so entschieden zurück? Warum verhält er sich so ablehnend und wählt diese Worte? Kann er nicht anders herausstellen, dass er sein Heilswirken zuerst allein auf Israel – in der Bildwelt seiner Antwort auf die Kinder – begrenzt sieht? Warum wählt er für meine Tochter die Rolle eines kleinen Hundes? Warum wählt er dieses demütigende Bild? Und ja, es ist demütigend, denn seine Redeweise weist uns entschieden die Position zu, dass wir unreinen Hunden gleichen! Hat ausgerechnet er etwa keine Vorstellung davon, was so etwas mit Menschen macht? Oder interessiert er sich gar nicht für uns syrophönizische Hündchen, die seiner Ansicht nach in Opposition zu den jüdischen Kindern stehen? Nach ihm würden die Kinder Israels hungern, wenn man den nichtjüdischen Hunden ihr Brot vorwerfen würde. Ist denn nicht genug Brot für alle da …? Auch, wenn er für uns das Heil nicht prinzipiell ausschließt, so sind wir noch nicht an der Reihe. Geht denn aber nicht genug Heilung von diesem Menschen aus?
Ich liege immer noch vor ihm zu Füßen und stelle mir all diese Fragen. Frage mich, warum er ausgerechnet mich so ablehnt, wo ich doch von so vielen bessergelingenden Beziehungen zwischen ihm und anderen Frauen gehört habe. Aber ich bin die fremde Frau, die Syrophönizierin.
Plötzlich merke ich, dass ich mich selbst vor ihm in der entehrenden Rolle einer Hündin befinde. Kann das sein? Darf das sein? Nein! Ich bin keine hündische Speichelleckerin! Ich kann mich nicht so abspeisen lassen. Auch nicht von ihm. Es steht zu viel auf dem Spiel …
Und so stehe ich auf und erhebe meine Stimme. Ich bin bereit zu streiten. Ich argumentiere, indem ich das von ihm gewählte Bild geschickt aufgreife. Auch, wenn seine Antwort auf meine Bitte alles andere als leicht zu verdauen ist, bleibe ich nicht stumm, sondern reagiere schlagfertig. Was ich in diesem Moment fühle? Wut? Empörung? Angst um meine Tochter?
Ich weiß es nicht. Vielleicht ist da von allem ein bisschen.
Auch wenn ich aufgewühlt bin, werte ich ihn in meiner Antwort nicht ab. Ich erweise ihm den Respekt, den ich nicht erhalte.
Innerhalb der von ihm gewählten Bildwelt entwerfe ich ein alternatives Szenario. Ich verändere seine Reihenfolge von zuerst und später: Für die Hunde fällt eben doch etwas ab, auch wenn am Tisch noch gegessen wird. Auch führe ich eine neue Raumachse von oben und unten ein. Ja, ich ordne uns damit unter, aber mir gelingt dadurch, seine Rede zu entkräften. Und …: Die Heilung meiner Tochter. Ja, weil ich so spreche, wird meine Tochter gesund. Er räumt es selbst ein, dass es mein Argument ist, das ihre Heilung bewirkt hat. Meine Antwort war ein Heilwort.
Ob er von mir dazugelernt hat? Ich weiß es nicht. Was ich aber weiß ist, dass ich durch meine Worte rechtbehalten habe: Heil für uns bedeutet nicht eine Minderung des Heils für sein Volk. Es ist genug für alle da! Meine Tochter ist gesund, allerdings um den Preis, dass ich für sie wie auch für mich selbst die Rolle von Hunden unter dem Tisch angenommen habe.
Geht die Erzählung um mich damit nicht aber doch ganz auf meine Kosten? Nein, nicht ganz …
Ja, ich muss mich selbst als Hündin marginalisieren, um Rettung und Heil für mein Kind zu erlangen. Und ja, ihm, den ich gebeten habe, ist hier bei Tyros nichts Sympathisches abzugewinnen. Als syrophönizische Frau und damit als Angehörige einer nicht-jüdischen Kultur bin ich seinem Volk gegenüber nicht gleichberechtigt. Es entsteht keine Form der direkten Gemeinschaft. Ich gehe nach Hause … zu meinem gesunden Kind.
Und genau hier hat der Evangelist in der Erzählung um mich bedeutsam variiert. In einem einzigen Vers bringt er die von seinem Protagonisten entworfenen Rollenzuschreibungen durcheinander. Zuhause finde ich meine gesunde Tochter, aber jetzt wird dieser bisher stets für sie verwendete Begriff gerade nicht mehr verwendet. Ich finde mein Kind. Im Text, in dem ich begegne, hat die Erzählstimme das letzte Wort. Gegen seine Stimme, ja sogar auf seine Kosten, legt sie fest, dass wir eben keine Hunde sind, die unterwürfig Heilskrümel erbetteln, sondern mit vollem Recht Kinder sind und damit zumindest einen nahezu gleichen Status haben wie die jüdischen Kinder.
Dafür stehe ich – ich, eine Frau aus den Evangelien.
Als ich auf der Geburtstagsfeier des Mannes meiner Mutter tanzte, ahnte ich nicht, welche Folgen das für mich haben würde. Weitreichende Folgen. An diesem einen Tag geriet alles in eine Schieflage …
Ihr kennt mich als Salome, obwohl mein Name im ältesten Evangelientext gar nicht genannt wird. Hier werde ich über meine Mutter vorgestellt. Ich bin die Tochter der Herodias, mit der ich später und durch die Jahrhunderte hindurch sogar zu einer Figur verschmelzen soll. Ob Herodes Antipas mein Vater oder mein Stiefvater ist, lässt der Evangelist offen, anders als der große jüdische Geschichtsschreiber in seinen Altertümern, von dem ihr auch meinen Namen übernommen habt.
Die Geschichte, in der ich begegne, ist eine, an der sich zeigen lässt, welche Wirkmacht die Interpretation eines Textes – dem möglicherweise Hofklatsch zugrundeliegt – entfalten kann.
Was aus mir geworden ist? Weit mehr als die anonyme Figur in einer tragischen Erzählung. Weit mehr als Teil einer Dreieckskonstellation innerhalb der Erzählung um den Tod des Täufers.
Dabei hält der Text so wenig zu mir fest: Lediglich durch drei Handlungen, eine Frage an meine Mutter und eine Aussage – meinen Wunsch – trete ich in Erscheinung.
Ganz egal, zu welchen der anderen Personen im Text ich jeweils zugeordnet werde – ganz egal, wie sehr das Motivrepertoire um mich herum auch variiert – es ist seit jeher mein Tanz, der im Vordergrund steht. Dieser kleine Teil eines ausgelassenen Festmahls, dieser kleine Teil im Text, der lediglich als Fakt genannt wird. Ja, ich habe für den Mann meiner Mutter getanzt. Jetzt überlegt ihr sicher auch – genau wie so viele vor euch – ob das etwas Ungewöhnliches ist, oder?
Ob ich aus eigenem Antrieb oder auf Zutun meiner Mutter tanzte? Diese Frage lässt der Text offen. Eine von vielen Leerstellen. Leerstellen, die in Bezug auf meine Person ausladend gefüllt worden sind …
Ob ich mit sieben Schleiern getanzt habe? Nein. Das entspricht eurer Fantasie, auch wenn diese Annahme verbreitet ist. Ihr lenkt damit eure Vorstellungen auf das, was ihr als orientalisch wissen wollt. Oder ihr kennt Oscar Wildes „Salome“ aus dem Theater, der mich in den Farben der erotisch tanzenden Schönheit kleidet, die einem Mann berechnend den Kopf verdreht. Ihn zu ungewollten Handlungen verführt …
Darf ein erotischer Nebenklang mitgehört werden, weil mein Tanz schließlich gefällt …? Vermutlich ist auch das eine Produkt ausschweifender Männerfantasien. Der Tetrarch jedenfalls versprach mir die Erfüllung eines Wunsches. Bis zur Hälfte seines Königtums durfte ich mir etwas wünschen, von dem ich noch gar nicht wusste, was es sein sollte. Durch sein Versprechen hat er sich in eine Zwangslage gebracht, aber der Tod hielt schon vor meinem Tanz Einzug in das Fest. Wie dem auch sei: der „Tanz der Salome“ – mein Tanz? – dient seit jeher als Negativbeispiel für das lasterhafte Verhalten einer jungen Frau, das dem Tod bringt. Er führte zuletzt auch dazu, dass man meinen eigenen Tod legendarisch ausgemalt hat: Ich soll auf dem gefrorenen See Genezareth getanzt haben, bis ich darin einbrach. Die spitzen Kanten des gebrochenen Eises sollen mich enthauptet haben …
Ihr fragt noch nach dem Motiv, das in der Betörung des Mannes meiner Mutter gelegen und zum Tod des Wüstenpredigers geführt haben soll? Eine unglückliche, einseitige Liebe, die vom Umkehrtäufer nicht erwidert worden ist!
Das ist die vorherrschende Deutung, denn auf diese Art und Weise begegne ich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bei mehr als 60 Autoren, in 28 Musikstücken und in über hundert Darstellungen der bildenden Kunst.
Aus mir, der einen Tochter der Herodias, wurden viele Salomes:
- Das fremdgesteuerte Kind, das Instrument ihrer grausamen Mutter ist …
- Die triumphierende Frau, die den Kopf des Täufers auf einer Fleischplatte wie eine Trophäe hält …
- Das Mädchen, das angewidert vom Kopf des Täufers den Blick abwendet …
- Die lasterhafte Frau, vor der es zu warnen gilt, weil sie sie mit ihrem Tanz sämtliche Huren in den Schatten stellt …
- Die, die mit dem Teufel im Bunde steht, und die im Mittelalter zur Hexe diffamiert wurde …
- Der männermordende Vamp, die femme fatale – eine verkommene Muse und Sinnbild weiblicher Grausamkeit …
- Die, die gelegentlich sogar in pornographischen Kontexten begegnet – als Personifizierung von Lust und Tod …
Wer bin ich eigentlich?
Repräsentantin einer unergründlichen Weiblichkeit?
Reflexionsmoment der ästhetischen Stimmung einer jeweiligen Rezeption?
Ich weiß es selbst nicht mehr …
Zu vieles wurde aus mir gemacht und erdacht.
Wenn ich in den Text schaue, weiß ich allerdings, dass ich eins ganz sicher bin:
Ich bin die Tochter der Herodias.
Wir sind die Frauen in den Evangelien, die keinen Namen haben.
Als Namenlose haben wir Einzug in die Erzählungen um ihn gehalten.
Von 34 in den Evangelien auftretenden weiblichen Frauenfiguren kennt ihr nur von 14 einen Namen. Wir anderen bleiben anonym – die Erzählungen um uns jedoch sind euch bekannt.
Aber welche Rolle spielen wir in seiner Geschichte? Ist es erzählerische Absicht, dass wir zweitrangig sind? Urteilt ihr, denn ihr kennt uns:
Wir sind die Schwiegermutter des Petrus, die Tochter des Jaïrus, die Witwe aus Nain, die verkrümmte Frau, die Ehebrecherin, die Magd am Feuer, die Frau am Brunnen … und viele andere.
Wir sind differenzierte Persönlichkeiten.
Wir sind fiktionale Figuren und reale Frauengestalten.
Vielen von uns sind Wunder widerfahren, teilweise sind wir Vorbild – immer jedoch haben wir Identifikationspotenzial und das nicht nur wenn wir in Gleichnissen begegnen.
Wir – auch als Namenlose – stehen für die durch uns erzielte qualitative Überwindung der quantitativen Dominanz der Männer in den androzentrischen Gedankenstrukturen der neutestamentlichen Autoren.
Wir sind herausragende Figuren! Wenn unser Glaube und unsere Beziehung zu ihm ins Spiel kommen, ist dies nicht von Geschlechterkategorien bestimmt. Hier dominieren wir entschieden über die anonymen Männer in den Evangelien, die uns zahlenmäßig sogar überlegen sind.
Dass wir keinen Namen haben, ist das bis heute typische Schicksal von Frauen in der historischen Erinnerung. Aber auch als namenlose Frauen sind wir von erzählerischer und von theologischer Größe.
Wir haben eine Stimme.
Und wir haben etwas zu sagen.
Wir sind Frauen in den Evangelien.
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